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Die Kreativen tragen einen grossen Teil zum Schweizer Wohlstand bei. Jetzt geht es für viele von ihnen ums Überleben. Andere aber werden von der Krise profitieren. Von Martina Läubli und Peer Teuwsen (Text) und Elisa Forster (Infografik)

Mit Aussagen, die die Zukunft betreffen, sollte man vorsichtig sein, gerade angesichts dieses Virus. Aber eins ist schon heute sicher: Der Wirtschaftszweig der Kreativen ist vom Lockdown fundamental erschüttert worden und steht vor tektonischen Verschiebungen. Die Kultur ist gerade daran, sich neu zu erfinden. Während das öffentliche kulturelle Leben zum Stillstand gekommen ist, explodieren digitale Initiativen. Das Tempo, mit dem die Digitalisierung weite Bereiche der Kultur erfasst, beschleunigt sich durch die Krise in geradezu erschreckendem Tempo. Doch die Auswirkungen von Corona sind je nach Bereich sehr unterschiedlich. Das zeigt eine Studie der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK), die der «NZZ am Sonntag» exklusiv vorliegt.

Die Kreativökonomie ist ein bedeutender Teil der Schweizer Wirtschaft. Über eine halbe Million Menschen arbeiten in ihren verschiedenen Bereichen (siehe Grafik). Sie erwirtschaften etwa sieben Prozent des Bruttoinlandprodukts, also rund 48 Milliarden Franken, wie Romain Page, Co-Autor der Studie, ausgerechnet hat. Das Bild ist differenziert. Während etwa Schauspielerinnen, Musiker und Tänzerinnen ohne Auftritte dastehen, arbeiten Gamedesigner und Web- designer weiter. Für ihn habe sich nicht viel geändert, sagt der Zürcher Gamedesigner Mario von Rickenbach gegenüber dem Studien-Co-Autor Frédéric Martel: «Jene Künstler, die mit Medien ohne physische Präsenz arbeiten und öffentliche Fördergelder erhalten, können mehr oder weniger normal weiterarbeiten, auch zu Hause. Im Gegensatz dazu haben jene, die von Live-Auftritten abhängig sind, ein Problem.»

Künstler sind doppelte Opfer

Über 500 Musikklubs und über 400 grosse und kleine Theater gibt es in der Schweiz; 272 Kinos mit insgesamt 609 Sälen und ein gutes Dutzend Konzertsäle für klassische Musik: Sie alle sind seit dem 16. März geschlossen. Dazu mussten diesen Frühling und Sommer Hunderte von grossen und kleinen Festivals abgesagt werden, von der Kyburgiade bis zum Paléo-Festival in Nyon mit jeweils über 300 Einzelkonzerten und 270 000 Besuchern. Ob Rapperin oder Oboist, ob Comedian oder Bühnentechnikerin: Tausende haben ihre Engagements verloren, in jener Zeit, in der sie normalerweise den Grossteil ihres Jahreseinkommens erwirtschaften.

Damit droht vielen Musikern und Schauspielerinnen akute Not. Die meisten von ihnen arbeiten freischaffend, die meisten brauchen neben ihren künstlerischen Engagements einen Nebenjob, um ihre Existenz zu sichern. Doch genau diese Jobs fallen dem Lockdown ebenfalls zum Opfer. Der amerikanische Musiker Brett Gleason sagt: «In New York arbeitet die Mehrheit der Musiker, Schauspielerinnen und Comedians in Bars oder Cafés, sie unterrichten oder musizieren in der U-Bahn. Jetzt fallen nicht nur ihre Auftritte und Konzerte weg, sondern auch die Restaurants, Bars und Kurslokale sind geschlossen. Die Künstler werden doppelt zum Opfer.» Viele von ihnen könnten die Miete bereits nicht mehr bezahlen.

Im Gegensatz zu den USA leistet die Schweiz zwar staatliche Nothilfe in der Höhe von 280 Millionen Franken. Kulturschaffende können bei Suisseculture Sociale, bei den Kantonen und zum Teil bei den Gemeinden Soforthilfe beantragen. Bei Suisseculture Sociale haben bis am 8. Mai 896 Einzelpersonen um Nothilfe ersucht. Beim Kanton Zürich haben bis am 5. Mai insgesamt 515 Institutionen und Kulturschaffende Gesuche für eine Schadenssumme von 40 Millionen Franken eingereicht, etwa drei Viertel der Summe betreffen Kulturunternehmen. Die Zahl der Anträge wird wohl noch steigen. «Die Notlage trifft bei vielen Kulturschaffenden erst verzögert ein», sagt Nicole Pfister Fetz von Suisseculture Sociale.

Die geschlossenen Kulturlokale und die abgesagten Festivals betreffen nicht nur die Künstler selbst, sondern auch Werbung und Grafik sowie andere Branchen wie Gastronomie und Tourismus. Der Stillstand bei den Veranstaltungen führt zu einem Schneeballeffekt weit über die Verlustzahlen hinaus. Dazu kommt, dass mit dem Live-Event auch das Erlebnis verloren geht: dass hier etwas passiert, das man gemeinsam mit anderen erlebt, dass ein Funke überspringt.

Lässt sich das Erlebnis von Kultur auch digital vermitteln? Und auf welche Weise? Darüber zerbrechen sich Veranstalter nun den Kopf. Aber die Folgen könnten auch ihr Gutes haben. Tom Avendaño, Kulturjournalist bei «El País», sagt, dass die Krise zu neuen Stimmen, Stilrichtungen, Kulturmodellen führen könnte: «Kostengünstigere oder auf einer anderen Ästhetik beruhende Inhalte könnten sich herauskristallisieren.» Jedenfalls gab es im Internet so viele Streamingangebote, noch nie gab es so viele Online-Festivals.

Auch der Buchhandel ist zum Versandhandel geworden. Beim grössten Schweizer Buchhändler Orell Füssli Thalia haben sich die Online-Bestellungen in der Corona-Krise mehr als verdoppelt. Der Verkauf von E-Books ist in der Deutschschweiz um 46 Prozent gestiegen, bewegt sich insgesamt aber noch auf bescheidenem Niveau. Doch weil die Buchläden bis am 10. Mai geschlossen blieben und der Grossteil bisher im analogen Verkauf umgesetzt wird, ist die Einbusse für Verlage und Buchhandel trotzdem sehr hoch. In der

Deutschschweiz rechnet der Schweizer Buchhändler- und Verlegerverband mit einem durchschnittlichen Verlust von 40 bis 60 Prozent. Und ob die Käufer jetzt in Scharen in die Läden zurückkehren, ist fraglich. «Viele unabhängige Buchhandlungen, die immer schon mit tiefen Margen operiert haben, laufen Gefahr, nicht zu überleben», sagt Henry Finder, Herausgeber des «New Yorker».

Netflix: 16 Millionen Neukunden

Die Corona-Krise verändert unser Kulturverhalten, verlagert es ins Digitale. Dabei ist das Bedürfnis nach Kultur, nach Unterhaltung und Reflexion, in Krisenzeiten stärker denn je. Davon profitieren zuerst einmal die grossen Streaminganbieter, allen voran Netflix. Laut einer Schätzung der ZHdK hat Netflix dieses Jahr bisher bereits 16 Millionen neue

Abonnentinnen gewonnen und steht als Gewinner da, im Gegensatz zu den Kinos, die sich angesichts der geschlossenen Säle die Zukunftsfrage noch dringender stellen müssen. Zudem treibt sie noch eine andere Sorge um, die sie mit Netflix und TV-Sendern teilen: Wie kommen sie längerfristig an neue Inhalte? Filme und Serien werden analog gedreht, sind das Ergebnis der Arbeit eines grossen Teams. Doch in Zeiten des Social Distancing liegen die meisten Dreharbeiten auf Eis. Das hat auch negative Folgen für alle anderen Dienstleister, die an der Film- und Fernsehindustrie hängen.

Im Gegensatz zum Filmstreaming sind Musikstreamingdienste wie Spotify in der Krise nicht gewachsen, was daran liegen könnte, dass die Mobilität sozusagen verschwunden ist. Die Arbeitswege, auf denen viele Musik oder Podcasts hören, sind weggefallen. Aber nicht alles steht still. Neue Online-Plattformen müssen programmiert und neue Apps entwickelt werden, und das muss auch noch cool aussehen. Grafiker entwerfen Banner für Webseiten statt Plakate. Die Kreativen im IT-Bereich, welche die grösste Gruppe der Kreativökonomie ausmachen, haben viel zu tun.

Dass die Digitalisierung der Kultur rasant voranschreitet, ändert aber nichts daran: Viele Menschen warten sehnlichst darauf, Musik wieder live hören zu können. Das glaubt auch Christian Jott Jenny, der angekündigt hat, das Festival da Jazz in St. Moritz im Juli trotzdem durchzuführen, in «der Situation angepasster Form». Das finden auch die Verantwortlichen des Literaturfestivals Leukerbad, das Ende Juni trotz Corona stattfinden soll. Es sind wohl die Waghalsigen, die überleben werden.

Die Studie «Sleeping Beauty – Soforthilfepolitik für Kunst und Kultur» des Zurich Centre for Creative Economies (ZHdK), verfasst von Christoph Weckerle, Frédéric Martel, Romain Page und Simon Grand, erscheint kommende Woche.

Zu diesem Feld der Kreativ- ökonomie gehören zum Beispiel ein Programmierer für ein Virtual-Reality- Programm, der Buchhalter einer Videogame-Firma, aber auch der Webdesigner in einer Bank.
In der Kreativ- ökonomie ent- stehen nicht nur neue Designs, sondern auch neue Geschäftsmodelle und Startups.

Arbeitsmarkt

«Was heisst heute ‹live›?»

Christoph Weckerle von der Zürcher Hochschule der Künste erklärt, warum die Kreativökonomie in der Corona-Krise vergessen geht.

Herr Weckerle, ich wusste gar nicht, dass eine halbe Million Menschen in der Schweizer Kreativökonomie tätig sind. Wie kommen Sie auf eine so hohe Zahl?

Christoph Weckerle: Diese Zahl ist sehr stabil. Wir orientieren uns an internationalen Konventionen, die etwa Eurostat, die Weltbank oder Unesco ebenso verwenden. Da wird zum Beispiel auch der Designer eingerechnet, der in einer Bank virtuelle Welten schafft. Banken aber zählen nicht zur Kreativökonomie, weshalb er in den bisherigen Schweizer Statistiken unterging.

Wird die Bedeutung der Kreativökonomie unterschätzt?

Ihr Stellenwert als Branchenkomplex ist unbestritten. Die Dimensionen erstaunen aber immer wieder. Auch hat die Schweiz noch Aufholbedarf, wenn es um die Rolle der Kreativökonomie im Innovationssystem geht. Bei den Corona-Massnahmen ging sie unter, weil sie sehr heterogen ist und keine Lobby hat.

Gibt es tektonische Verschiebungen durch das Virus in diesem Wirtschaftszweig?

Die Auswirkungen sind sehr unterschiedlich. Fragt man einen Schriftsteller, hat sich für ihn nichts geändert. Er schreibt und hofft, dass er einen Verleger findet. Fragt man eine Designagentur für Webdienstleistungen, hört man Begeisterung. Da boomt das Geschäft. Fragt man einen Live- Musiker, redet der hingegen von Sozialhilfe. Die Einschätzung, es gehe jetzt grundsätzlich bergab mit der Kreativökonomie, ist also zu grob. Mittelfristig sehen wir aber, dass die Produktionsketten zusammenbrechen. Was passiert, wenn noch länger keine Filme mehr produziert werden? Die Leute haben Stress, was die Zukunft betrifft.

Eins scheint klar: Die Kreativökonomie macht einen Digitalisierungsschub durch.

Ja. Wir an der ZHdK machen zurzeit Dinge digital, von denen wir nie geträumt haben, etwa Aufnahmeprüfungen. Was heisst heute «live»? Dieses Verständnis wird sich radikal verändern.

Würden Sie heute einem jungen Menschen noch raten, Live- Künstler zu werden?

Selbstverständlich. Der Arbeitsmarkt wird sich verändern. Aber wir als Hochschule sind ja dafür da, junge Menschen darauf vorzubereiten. Nein, ich bin immer noch zuversichtlich.

Interview: Peer Teuwsen

Christoph WeckerleDirektor des ZHdK-Departements Kulturanalysen und -vermittlung.

Wir Künstler leben bereits prekär, da ist die Corona-Krise verheerend. Aus der Prekarität rutschen wir in die Not.

Miguel Rojas PalenciaFilmproduzent, Barcelona

Es hat sich nichts geändert in meiner Art, Spiele zu produzieren. Ich habe mein Studio und arbeite mit Leuten, die oft im Ausland sind.

Mario von RickenbachSpielentwickler, Zürich

Viele unabhängige Buchhandlungen, die immer schon mit tiefen Margen operiert haben, laufen Gefahr, nicht zu überleben.

Henry FinderHerausgeber «The New Yorker»

Wir glauben an die Kultur und daran, dass wir Menschen danach dürsten. Deshalb findet das Festival da Jazz auch dieses Jahr statt.

Christian Jott JennyFestivalgründer, St. Moritz

Dank der Krise könnten sich kostengünstigere oder auf einer anderen Ästhetik beruhende kulturelle Inhalte heraus- kristallisieren.

Tom AvendañoKultur- journalist «El País», Madrid
NataliaSmatsi

The Zurich Centre for Creative Economies (ZCCE) is an international centre of excellence dedicated to research, teaching, incubation and consultancy in the field of the creative economies.

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